Seit einigen Wochen erhalten wir viele Kommentare und Zuschriften zu einer unserer Folgen, „Das Gewicht und die Psyche“ vom Januar 2021. Wir werden kritisiert, die Folge würde fettfeindliche Klischees bedienen und einer Diskriminierung übergewichtiger Menschen Vorschub leisten. Wir haben den Vorwurf ernst genommen und die Podcast-Folge kritisch hinterfragt. Wir kommen aber zu dem Schluss, dass die Kritik nicht gerechtfertigt ist. Die nun weiterhin auf unterschiedlichen Wegen an uns herangetragene undifferenzierte, polemische und nicht gerechtfertigte Kritik, hat uns veranlasst hier noch einmal ausführlich Stellung zu beziehen:
Body Positivity soll ein Kampf gegen Diskriminierung sein. Es soll dabei um gesellschaftliche Aspekte gehen, aber nicht gegen die Diagnose von Übergewicht oder Adipositas als solche. Die Diagnosen sind neutral, nicht urteilend, sie treffen als objektiver Maßstab Aussagen über das individuelle Risiko für Begleiterkrankungen und die individuelle Gesundheit. Das heißt nicht, dass jede Person, die in einen bestimmten BMI-Bereich fällt, dadurch krank ist. Es handelt sich um ein Spektrum, um eine Momentaufnahme und eine Bewertung allein anhand des BMIs darf nicht stattfinden.
Wissenschaftlich besteht aber kein Zweifel daran, dass Übergewicht und Adipositas über lange Zeiträume teilweise enorm gesundheitsschädlich sind und die Lebenserwartung signifikant verkürzen. Zu erwähnen sind vor allem somatische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkerkrankungen, erhöhtes Auftreten von Krebserkrankungen uvm. (Haslam & James 2005). Zusätzlich besteht ein bewiesener Zusammenhang zwischen einem erhöhten Auftreten von diversen psychischen Erkrankungen und Übergewicht, und zwar aus verschiedenen Gründen: Psychische Erkrankungen wie z.B. die Binge-Eating-Störung, kommen als Ursache in Betracht, aber auch medikamentöse Behandlungen können Übergewicht als Nebenwirkungen verursachen. Darüber hinaus haben Menschen mit Adipositas ein erhöhtes Risiko, an einer depressiven Störung zu erkranken (Luppino et al. 2010, Haslam & James 2005). Das Risiko für Angststörungen ist ebenfalls erhöht (Dawes et al. 2016). Ein möglicher Grund hierfür könnte die erhebliche soziale Diskriminierung und Stigmatisierung sein, unter der die von Übergewicht Betroffenen in jenen Kulturkreisen leiden, in denen gegenwärtig Schlankheit als Schönheitsideal gilt (siehe z.B. Puhl et al., 2005).
Um nur ein Beispiel für die im offenen Brief genannten Kritikpunkte zu demonstrieren: Wir hören den Vorwurf, wir würden Menschen eine notwendige Behandlung verweigern, weil wir der Meinung seien, sie wären für manche Medikamente zu dick. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, wie man diese Aussage aus unserer Folge heraushören kann. Wir weisen diese Behauptung in aller Deutlichkeit zurück. Alle Menschen, egal welchen Geschlechts, welcher Sexualität, Hautfarbe, Religion und Ethnie werden gleichbehandelt. Entscheidungen, die die Therapie betreffen, werden immer gemeinsam aufgrund individueller medizinischer Faktoren und unter Berücksichtigung der persönlichen Präferenzen der Betroffenen getroffen. Wir führen, im Rahmen der uns zur Verfügung stehenden Zeit, mit unseren Hörer*innen gerne Diskussionen über kontroverse Themen, versuchen Fragen zu beantworten und auch auf Kommentare einzugehen. Ein offener Brief und Posts in Social-Media-Kanälen, in denen wir falsch und polemisiert zitiert werden, die anstelle von Auseinandersetzung eine Zensur fordern und die einen abwertenden und Hass fördernden Tonfall verwenden, sind kein Forum, in dem wir diskutieren werden.
Jede*r darf und sollte sich in seinem/ihrem Körper wohl fühlen. Jeder Mensch verdient es, geliebt zu werden und sich selbst zu lieben. Und gleichzeitig können Übergewicht und Adipositas medizinisch ungesund sein. Dies sind zwei Wahrheiten, die unserer Überzeugung nach in keinem Gegensatz zueinander stehen.
Literatur:
Haslam DW, James WP (2005). Obesity. Lancet, 366(9492):1197-209. doi: 10.1016/S0140-6736(05)67483-1. PMID: 16198769.
Puhl RM, Henderson KE, Brownell KD (2005). Social consequences of obesity. In: Kopelman PG, Caterson ID, Dietz WH (Eds.), Clinical obesity (2nd edn.), Blackwell Publishing, Oxford, pp. 29-45
Luppino, FS, de Wit, LM, Bouvy, PF, Stijnen, T, Cuijpers, P, Penninx, BW, & Zitman, FG (2010). Overweight, obesity, and depression: a systematic review and meta-analysis of longitudinal studies. Archives of general psychiatry, 67(3), 220-229.
Dawes, A.J, Maggard-Gibbons, M, Maher, AR, Booth, MJ, Miake-Lye, I, Beroes, JM, & Shekelle, PG (2016). Mental health conditions among patients seeking and undergoing bariatric surgery: a meta-analysis. Jama, 315(2), 150-163.
von und mit Ismene, Sebastian und Moritz